Mein lieber kleiner Karl,
letzten Sonntag war ich wieder im Katzenhaus zu meinem üblichen Pflegedienst. Ich hatte mich so sehr auf Dich gefreut und wieder reichlich Thunfisch für Dich und die anderen im Gepäck sowie eine Flasche mit Baldrian, um Dich ein bisschen fröhlicher zu stimmen.
Mein erster Weg führte dort führte auch gleich zu Dir. Du warst nicht da und ich hatte schon so ein merkwürdiges Gefühl im Bauch. Also ging ich gleich zu Christel und fragte sie, wo Du bist. Sie sagte mir: "Karlchen ist tot. Wir mussten ihn letzte Woche einschläfern lassen, weil es ihm so elend ging".
Liebes Karlchen, das war ein großer Schreck und es tut immer noch so weh. Ganz besonders die Gedanken an das Versäumte, was man nicht mehr nachholen kann. Am Sonntag zuvor trug ich Dich auf meinem Arm die ganze Zeit und Dein kleiner dürrer, von Alter und Krankheit ausgemergelter Körper schnurrte vor Freude und am liebsten hätte ich Dich in alle Ewigkeit so auf meinem Arm getragen. Ich habe sogar schon mit Dieter über Dich gesprochen, denn zu gern hätte ich Dich mit nach Hause genommen, aber man sagte mir, dass Du Dich mit anderen Katzen wohl nicht so gut verstündest. Hast in Deinen 22 Jahren da draußen wohl öfter mal was abgekriegt von Deinen Artgenossen.
Lieber Karl, leider blieb mir an diesen Sonntagen nicht immer die Zeit, mich ausschließlich um Dich zu kümmern, denn zu viele Tiere sitzen dort und warten auf Versorgung und Zuwendung. Also musste ich dann auch die anderen versorgen und konnte nicht in der Weise für Dich da sein, in der ich es gern gewesen wäre und doch galt und gilt Dir meine Zuneigung insbesondere. Ich weiß noch, wie Du mir nachgeschaut hast, als ich dann gehen musste. Dass es das letzte Mal sein würde, habe ich nicht gewusst.
Ach Karlchen, ich wünschte, der Tag hätte 48 Stunden und dass ich die Zeit, in der ich bei Dir war, hätte anhalten können für die Ewigkeit. Ich vermisse Dich und hoffe von ganzem Herzen, dass wir uns einmal wieder sehen, dass es die Regenbogenbrücke wirklich gibt und dass Du nun dort bist, in diesem Land - nennen wir es einfach mal Trefelin - und ich wünsche mir, dass Du in Trefelin ein junger, gesunder und kraftstrotzender Kater bist, der dort glücklich ist und gemeinsam mit Moses, Beethoven, Charisma, Peter und all den anderen glücklich und unbeschwert durch die Wiesen streifst bis wir uns hoffentlich einmal wiedersehen. Solltest Du dort meinen Hund Teddy treffen, dann grüße ihn und sage ihm, dass ich ihn liebe und vermisse, auch wenn heute Alfred, Buffy und Benjamin mein Leben teilen, sage ihm bitte, er soll nicht böse sein, ich habe ihn nicht vergessen und werde es nicht.
Wenn Du Peter triffst, sage ihm, dass ich nie der Meinung war, dass er komisch aussähe, und dass ich gerade ihn - ob seines eigensinnigen Profils - sogar sehr als schön empfinde. Grüße Moses und Beethoven und sage bitte Charisma, dass es mir Leid tut, dass ich immer Angst hatte, von ihr gebissen zu werden, vielleicht kann ich sie ja irgendwann einmal auf den Arm nehmen, vielleicht irgendwann mal da drüben bei Euch, in Trefelin.
Mein lieber kleiner Karl, das Leben der Menschen ist bestimmt von Hetze und Stress und wir rennen falschen Idealen hinterher wie der Esel hinter der Möhre, reißen uns tagtäglich drei Beine aus für irgendwelche blöden Armleuchter. Wir müssen da mitmachen, das ist wie Mäuse jagen, nur dass wir unsere Mäuse verdienen müssen, weißt Du? Dabei verlieren verlieren wir so leicht den Blick für das wirklich Wesentliche.
Dieses kleine bisschen Zeit, das wir uns kannten, mein kleiner Karl, das ist von Bedeutung - im Gegensatz zu so vielen anderen Dingen des Alltags, denen wir uns immer wieder unterwerfen.
Das wurde mir letzten Sonntag auf derbste Art und Weise wieder mal klar. Auch als ich dort die kleine Rubina zu Gesicht bekam, die dank eines öffentlichen Tierheims in erbärmlichen Zustand sich befindet und einfach nur unglaubliches Glück hatte, dass Christel sie beim Tierarzt gesehen hat. Wenn ich dann so ein armes kleines Wesen vor mir sehe, dann weiß ich wieder, was im Leben wirklich zählt, und dann glaube ich auch zu wissen, wozu wir überhaupt alle hier sind. So was lässt einen all die lächerlichen Dinge, über die wir uns üblicherweise den Kopf zerbrechen, klein und unwichtig erscheinen und in völlig anderem Licht.
Ach Karlchen, ich wünsche mir, dass alle Menschen hin und wieder ein wenig Zeit finden - oder sich diese ganz einfach nehmen - in sich zu gehen, um sich auf das Wesentliche zu besinnen und dabei bemerken, dass irgendwo tief da drinnen ein Herz sitzt, eines, das Mitleid zu empfinden in der Lage ist, eines, das den Mut besitzt, Dinge ändern zu wollen, die nicht in Ordnung sind, eines, das da sagt: "Stopp! Ich will nicht mehr mit dem Strom schwimmen und ich will mich nicht einlullen lassen von Alltagstrott und Wohlstandsidyll!"
Christel und Eveline, auf diese beiden ist wirklich Verlass und bei unserem Tierarzt ist Rubina auch in den besten Händen, daran glaube ich felsenfest. Das war es auch, was zu meiner Beruhigung beitrug in Deinem Fall, denn wenn Eveline, Christel und unser Tierarzt gemeinsam im Einsatz sind, dann ist garantiert alles Menschenmögliche getan für jedes Tier und wenn diese Menschen sagen, dass es für Dich das Beste ist, diese Reise anzutreten, dann glaube ich das.
Mein lieber kleiner Karl, ich muss diesen Brief nun schließen, denn mein "Armleuchter" ruft schon wieder - ich weiß ja, genau das haben wir soeben noch durchgekaut - und hoffe, dass dieser Brief Dich irgendwie erreicht. Ich weiß, dass es in Trefelin kein Postamt gibt, das diesen Brief Dir zustellen könnte, bei Euch stehen die Uhren still, insofern es überhaupt welche gibt. Dafür ist es für Euch dort drüben nur eine Sekunde der Ewigkeit, bis wir uns wieder sehen, für uns hier ist es ein ganzes Leben. Also bis dann.
In Liebe, Gaby.